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„MoVe 35“ – Lebenshilfe Ortsverein Marburg spricht mit Oberbürgermeister


Der Lebenshilfe Ortsverein Marburg kümmert sich unter anderem um sozialpolitische Themen. Am 4. Juni hatte er zu einem Austausch rund um MoVe 35 eingeladen. Marburgs Oberbürgermeister stand Rede und Antwort.

„MoVe 35 und Behinderung – geht das Herr Dr. Spies?“. Diese konkrete Frage stellte der Lebenshilfe Ortsverein Marburg am vergangenen Montag im Rahmen einer öffentlichen Informationsveranstaltung an den Oberbürgermeister. Dieser steckt aktuell mit seiner Politik rund um ein neues, tiefgreifendes Mobilitäts- und Verkehrskonzept für Marburg in einer breiten und sehr kontroversen öffentlichen Diskussion. Nachdem ein Bürgerbegehren gegen MoVe 35 wegen Formfehlern gescheitert war, brachte die Stadtverordnetenversammlung einen Bürgerentscheid zu diesem Vorhaben auf den Weg. Dieser findet am kommenden Sonntag statt – zeitgleich mit der Europawahl.

Doch bleiben wir bei der Fragestellung aus den Reihen der Behindertenhilfe. „Ein gutes Mobilitätsangebot ist für alle Menschen von besonderer Bedeutung. Für Personen mit Behinderung noch etwas mehr“, betonte Roland Wagner, der Vorsitzende des Ortsvereins in seiner Begrüßung. „Ihr Vorhaben, Herr Dr. Spies, hat für Unruhe in unseren Reihen gesorgt. So haben sich beispielsweise Eltern von Menschen mit Behinderung bei uns gemeldet und ihre Besorgnis über MoVe 35 kundgetan“. Eine der Fragen lautete: „Inwieweit werden die Einrichtungen des Lebenshilfewerkes von MoVe 35 betroffen sein?“. Die Vertreter:innen des Ortsvereins waren sich einig, dass niemand aus den eigenen Reihen diese berechtigte Frage beantworten kann. Und so lud man den ein, der dies hoffentlich beantworten kann: Marburgs Stadtoberhaupt sollte allen Interessierten Rede und Antwort stehen inwieweit Menschen mit Behinderung und deren Angehörige und Betreuende von MoVe 35 betroffen sind. „Sie haben unsere Einladung prompt angenommen und direkt Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung gezeigt. Das hat uns sehr gefreut“, so Wagner weiter. Dass man sich nur wenige Tage vor dem Bürgerentscheid im Marburger Technologie- und Tagungszentrum (TTZ) traf, war purer Zufall, und führte widererwarten nicht dazu, dass alle Plätze besetzt waren.

Etwas über 30 Personen waren der Einladung des Ortsvereins gefolgt. Die Veranstalter:innen waren sich im Nachgang einig: Die kleine Runde hat dafür gesorgt, dass man inhaltlich sehr gut miteinander im Gespräch war. Zum Auftakt stellte Spies, tief drin im Thema MoVe 35, das gesamte Vorhaben dar. Betonte mehrfach, dass es sich hier um eine Strategie handele und dass er das neue Mobilitäts- und Verkehrskonzept als einen kontinuierlichen Prozess betrachte. Einen detailliert ausgearbeiteten Plan gebe es noch nicht, der müsse in Zusammenarbeit mit allen Akteur:innen entstehen.

Anette Reinhard, Einrichtungsleitung Wohnen im Lebenshilfewerk griff die Information auf, dass es in der Leopold-Lucas-Straße umfassende Änderungen in der Verkehrsführung geben soll, weil dort aufgrund der Schulen täglich so viele Kinder unterwegs seien. Doch dort befinden sich auch mehrere Einrichtungen der Lebenshilfe: „Inwieweit wird unser großer Standort in der Leopold-Lucas-Straße von MoVe 35 betroffen sein? Dort leben zahlreiche Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen. Unsere Mitarbeitenden kommen täglich in drei Schichten dorthin. Auch ein mobiler Pflegedienst muss unsere Einrichtung gut und völlig flexibel erreichen können“. Die Antwort des Oberbürgermeisters zu dieser recht konkreten Frage blieb eher vage. Das müsse jeweils während des Prozesses gemeinsam erarbeitet werden, so Spies und zeigte sich zuversichtlich, dass dies gelinge.

Auch die im Publikum vertreten Rollstuhlfahrer:innen, eine Frau die aufgrund einer Osteoporose eine Schwerbehinderung hat, ein blinder Mann und zwei Väter mit schwerbehinderten Kindern nutzten die seltene Gelegenheit des direkten Austauschs mit dem Oberbürgermeister, um auf ihre Interessen im Zusammenhang mit  verschiedenen Behinderungen aufmerksam zu machen. Das Kopfsteinpflaster in der Oberstadt, das für Rollstühle quasi nicht befahrbar ist, wurde thematisiert. Dort sei es bereits zu einem schweren Sturz einer Rollstuhlfahrerin gekommen. Bernd Gökeler, Vorsitzender des Vereins Netzwerke für Teilhabe und Beratung e. V., dauerhaft mit elektrischem Rollstuhl unterwegs, machte ebenfalls auf mehrere zentrale Stellen in der Innenstadt von Marburg aufmerksam, die mit einem Rollstuhl unpassierbar sind und wenn man sie passieren muss, damit man an sein Ziel kommt, ginge das nur mit einem ordentlichen Risiko: „Ich fahre dann mit meinem Rollstuhl über sehr rutschiges Pflaster und steuere unkontrolliert auf einen Pfosten zu, an dem ich mich abfangen muss“ so Gökeler. Sein Fazit: „Das Thema Barrierefreiheit hat in Marburg nicht den Stellenwert, den Menschen mit Einschränkungen brauchen“.

Spies gab zu, dass dem Leitsystem für blinde bzw. sehbehinderte Menschen aufgrund des hohen Bedarfs in Marburg mehr Aufmerksamkeit zugekommen sei und will das ändern. Auch verwies er auf einen Runden Tisch zu diesen Themen, den es bereits gäbe. Der habe zwar während Corona nicht stattfinden können, sei aber bereits reaktiviert und nehme nun Fahrt auf. Auch die Mitarbeitenden im Bauamt seien entsprechend sensibilisiert. Unter anderem für die Oberstadt sei man bereits an einer Planung, um zukünftig einen Pfad mit ebenem Pflaster zu haben, der für Rollstühle, Rollatoren, Kinderwagen und Co. gut zu befahren ist.

Die Stunde für Fragen, Antworten und Diskussion war schnell um. Viele Fragen und Anliegen gab es, die nicht alle gehört werden konnten. Ria Matwich aus den Reihen des Ortsvereinsvorstands moderierte die Veranstaltung und musste aufgrund der fortgeschrittenen Zeit einige letzte Äußerungen aus dem Publikum ablehnen.
Martin Kretschmer, Leiter der Lebenshilfe Lahnwerkstätten, gelang es noch, dem Oberbürgermeister das Angebot zu unterbreiten, dass die Fachkräfte aus dem Bauamt gerne zwecks Austausch und gemeinsamer Planung in die diversen Einrichtungen der Lebenshilfe kommen können. „Schauen Sie vorbei und lernen Sie die Menschen mit Behinderung, ihre Lebensumfelder und ihre besonderen Bedarfe kennen“.

Nach zwei Stunden gutem Austausch stellte Roland Wagner fest: „Ein kurzweiliger, informativer Abend. Eines ist klar: Um die Lebensqualität der Menschen in Marburg zu erhalten, sind Änderungen in der Mobilität nötig. Auf unsere Eingangsfrage möchte ich nun die Antwort geben: Ja, das geht, MoVe 35 und Behinderung!“. Im Publikum gab es dazu sicher vielfältige Meinungen. Der Bürgerentscheid am Sonntag wird zeigen, welcher Meinung die Mehrheit ist.

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